„Ich muss noch etwas sagen“

Von Tanja Stelzer

Er hatte versprochen, nie darüber zu reden. Am Ende seines Lebens tut er es doch. Ein ehemaliger französischer Widerstandskämpfer erzählt, was im Sommer 1944 geschah – und wird von einer Frau aus Deutschland besucht, die sich Gewissheit über ihren getöteten Großvater wünscht

"Ich muss noch ewas sagen"
Stephanie Füssenich für Die Zeit

Edmond Réveil ist ein kleiner Mann, dem das Alter dunkelgraue Schatten um die Augen gelegt hat. Mit 98 Jahren wohnt er noch immer allein in seinem Haus in der Corrèze in Zentralfrankreich. Hier in dem Örtchen Meymac könnte er seine letzten Jahre damit verbringen, sein Leben ausklingen zu lassen. Er könnte weiter seine Bücher lesen, historische Wälzer, die er nach wie vor in drei Tagen schafft. Er könnte weiter zu den Sitzungen seines Veteranenvereins gehen, wo er als letzter Überlebender mit besonderem Respekt behandelt würde. Er könnte sich, wie früher so oft, in Klassenzimmer setzen und den Schulkindern erzählen, dass es im Krieg nicht einfach die Guten und die Bösen gibt, sondern dass die Guten manchmal etwas sehr Böses tun. Wenn er in den Schulen sprach, ließ er offen, was genau er damit meinte. Der Satz erzählte nicht die ganze Geschichte.

Es hat acht Jahrzehnte gedauert, bis Edmond Réveil sich traute, das fehlende Ende zu ergänzen. Seitdem ist es vorbei mit dem Ausklingenlassen des Lebens.

Ständig kommen Menschen in sein Haus drei Autostunden westlich von Lyon. Reporter aus Frankreich, von der BBC, El País und der New York Times. Sein Telefon klingelt manchmal schon um vier Uhr morgens, einmal versuchten Boulevardjournalisten, über seinen Balkon einzusteigen. Und nun sitzt eine weißblonde Frau mit ihm an seinem Esstisch. Sie ist keine Reporterin. Vor ihr liegt ein Stapel vergilbtes, mit Tinte beschriebenes Papier, daneben ein Fotobuch. Erwartungsvoll schaut die Frau ihn an und sagt: »Je suis très excitée.« Ich bin sehr aufgeregt.

Die Frau ist aus Paderborn nach Meymac gereist, mit dem Bus, dem Zug, dem Flugzeug, dem Auto. Sie heißt Birgit Mertens und ist vier Jahrzehnte jünger als Edmond Réveil. Mit einer zarten, etwas schüchternen Handbewegung schiebt sie das Fotobuch zu ihm hinüber. Auf dem Titel ist in Hochglanz das Porträt eines Mannes in Wehrmachtuniform abgedruckt. Er mag um die 40 sein, hat dichte Augenbrauen und volle Wangen, um seinen Mund deutet sich ein Lächeln an.

»Das ist mein grand-père, mein Großvater«, sagt Birgit Mertens. Sie habe nur drei Jahre Französisch in der Schule gehabt, fügt sie entschuldigend hinzu und macht auf Deutsch weiter: »Können Sie sich an das Gesicht erinnern?« Nach einer Pause ergänzt sie: »Er war sehr groß.«

Edmond Réveil hört sich die Übersetzung an und antwortet: »Nein, ich kann mich nicht an alle erinnern.«

Es waren 47 Männer. Und eine Frau.

Es ist nicht einfach, sich einen 98-jährigen Mann als jungen Menschen vorzustellen. Egal, wo er heute hinkommt – Edmond Réveil ist der Älteste. Damals, sagt er, war er der Jüngste. Er nannte sich »Papillon«. Schmetterling. Den Namen hatte er sich selbst ausgesucht. Noch lange nach dem Krieg nannten ihn Freunde so, seine Frau, die Kinder.

Ein Schmetterling ist leicht und schnell und flattert in der Gegend herum, man kann ihn schwer fangen. Darum ging es damals. Man durfte sich nicht kriegen lassen.

Ein erstes Treffen mit Edmond Réveil im Juni 2023. Noch weiß er nichts von der blonden Frau aus Deutschland. Er erzählt, wie er mit 17 in die Résistance eintrat. Es war eine Entscheidung, die einen das Leben kosten konnte. Sie sei ihm nicht schwergefallen, sagt Edmond Réveil. »Als junger Mensch spürt man die Gefahr nicht.«

Die Résistance nennt man auch Maquis, »Gestrüpp«, denn viele ihrer Leute lebten zwischen Büschen und Bäumen, in Wäldern, oft versteckten sie sich in Scheunen, auf Bauernhöfen. Sie operierten in kleinen Einheiten, meist von acht Partisanen. Ihr Ziel war es, im Untergrund gegen Hitler zu kämpfen, in einem Land, das zur Hälfte von den Nazis besetzt war. In der anderen Hälfte, in der Edmond Réveil lebte, regierte ein Nazi-Vasallenregime, unter dem eine französische Miliz gemeinsame Sache mit deutschen Truppen machte.

Edmond Réveils Résistancegruppe waren die Francs-Tireurs et Partisans (FTP). Kommunisten. Ein wenig stolz sagt Réveil, damals in der Corrèze habe es so viele kommunistische Widerständler gegeben, dass die Deutschen die Region »Klein-Russland« tauften. Die Eltern des Schmetterlings waren entsetzt, dass er bei ihnen mitmachte. Einmal, erzählt Edmond Réveil, wollte sein Vater ihn aus seinem Versteck zerren und in Sicherheit bringen. Edmond weigerte sich. Seine Vaterfigur, das war nun Hannibal, sein Chef bei der Résistance. Wenn Réveil heute von Hannibal spricht, der in Wirklichkeit Joseph Fertig hieß, hellt sich sein Gesicht auf. Dabei hätte Hannibal ihn einmal fast umgebracht. »Ich sollte Wache schieben bei einem Hinterhalt. Aber ich war eingeschlafen, und die Deutschen konnten vorbei.« Edmond Réveil erzählt, wie Hannibal ihn 50 Meter in die Heide trieb, »ich hörte das Klicken seiner Waffe«. Dann aber habe Hannibal ihn an der Schulter gepackt: »Du bist zu jung zum Sterben.« Seit diesem Tag, sagt Réveil, sei er an Hannibals Seite gewesen.

Edmond Réveil wurde als agent de liaison eingesetzt, als Verbindungsmann. Auf seinem Fahrrad fuhr er zwischen den verschiedenen Résistancegruppen hin und her und überbrachte Nachrichten und Befehle für die nächste Sabotageaktion, den nächsten Angriff aus dem Hinterhalt. Aus Sicherheitsgründen überlieferte er die Befehle mündlich. »Oft war ich auch nachts unterwegs, Flugblätter verstreuen. Es ging darum, die Leute von der Kollaboration abzuhalten.«

Auf die Frage, wie es ihm gelungen ist, all die Jahre nicht über das zu reden, was am 12. Juni 1944 geschah, sagt Edmond Réveil: »Ich habe nicht mehr daran gedacht.« Dieser Satz fällt immer wieder, bei mehreren Treffen mit ihm. Weder seine erste Frau, die jung an Polio starb, noch seine zweite Frau, die er 2019 verlor, weder seine drei Kinder noch seine Freunde habe er ins Vertrauen gezogen, sagt er. Auch Birgit Mertens, die blonde Frau aus Deutschland, wird ihn fragen, wie das sein konnte. Wieder wird er antworten: »Ich habe nicht mehr daran gedacht.«

Einmal aber, als es darum geht, ob es nicht doch Momente gegeben habe, in denen die Erinnerungen sich in die Gegenwart drängten, antwortet er: »Der Geruch von Blut hat sich eingeprägt.« Wenn er Blut gerochen habe, dann habe ihn das an jenen Tag zurückversetzt. Beim Metzger zum Beispiel.

Sie hätten das Blut nicht vergießen dürfen – es ist nicht so, dass er all die Jahrzehnte gebraucht hätte, um zu dieser Erkenntnis zu kommen, und dass er deshalb erst jetzt spricht. Er sagt, er sei damals schon dieser Meinung gewesen: »Man tötet keine Gefangenen.«

50 Kilometer von Edmond Réveils Zuhause entfernt liegt, in einem von sieben Hügeln umgebenen Talkessel, Tulle, die Stadt, die dem Tüllstoff seinen Namen gegeben hat. Aber kaum jemand verbindet Tulle mit Brautkleidern und Hutschleiern.

In der Stadt gibt es ein pompöses Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, die Präfektur. Gleich daneben steigt einer der Hügel an. Dort versteckte sich am 8. Juni 1944 Edmond Réveil mit seinen Kameraden. Gerade mal eine Woche war es her, dass sie per Fallschirmabwurf Waffen geliefert bekommen hatten. Zwei Tage war es her, dass in der Normandie die Alliierten gelandet waren. Nun waren die FTP-Kämpfer der ganzen Region aufgerufen, Tulle zu befreien. Edmond Réveil feuerte, ohne je das Schießen gelernt zu haben, mit einem amerikanischen Karabiner auf die nahe gelegene École Normale de Jeunes Filles, eine Schule, an der eigentlich Lehrerinnen ausgebildet wurden. Dort hatten sich Männer der Wehrmacht und des Sicherheitsdienstes der SS verschanzt.

Der Auftrag an die Partisanen lautete, die Schule in Flammen zu schießen. Deshalb: Brandmunition. Ein historisches Foto zeigt dicke Rauchwolken, die aus dem Gebäude in den Himmel steigen.

»Die Deutschen haben sich ergeben. Ein paar sind in die Natur abgehauen«, sagt Edmond Réveil.

Die Partisanen töteten bei dem Angriff auf die Schule etwa 40 Deutsche. Neun weitere, in denen sie Folterer wiedererkannten, erschossen sie. Die übrigen nahmen sie gefangen.

Euphorie bei Edmond Réveil. Erleichterung bei den Einwohnern von Tulle. Die Straßen füllten sich mit Menschen, sie begannen zu feiern. Dann die Meldung: Die SS-Division »Das Reich« ist unterwegs nach Tulle. Die Partisanen verschwanden in mehrere Gruppen aufgeteilt aus der Stadt. Die Gefangenen nahmen sie mit.

So kam es, dass Edmond Réveil am Abend des 8. Juni 1944 mit etwa 30 anderen jungen Kämpfern und 54 Wehrmachtsoldaten in die Nacht hineinmarschierte. Die Gefangenen hätten nicht viel gesprochen, erzählt Edmond Réveil. Sie seien abseits der Straßen auf einem alten Römerpfad von Bauernhof zu Bauernhof gezogen, auf der Suche nach einem Quartier. Das war schon unter normalen Bedingungen schwierig. Und jetzt: Wer hatte Lust, 54 deutsche Mäuler zu stopfen? »Die Bauern wollten uns nicht haben«, sagt Edmond Réveil. »Es war sehr gefährlich für sie, die Deutschen patrouillierten ja noch.«

Schließlich fanden sie in dem kleinen Weiler Encaux bei Meymac Unterschlupf, in einer Scheune mit einem Zwischenboden. Unten die Kühe, oben die Gefangenen und ihre Bewacher. Edmond Réveil erinnert sich: »Die Soldaten waren schon älter, der jüngste war 35.« Es seien keine Frontkämpfer gewesen, auch hätten sie auf ihn nicht den Eindruck von Fanatikern gemacht.

Sie aßen gemeinsam, tranken gemeinsam. »Wenn einer pinkeln musste, gingen zwei von uns mit«, sagt Edmond Réveil.

Dann kam der Befehl.

Zeitzeugenbericht von Marcel Godefroy, Militärdelegierter der FTP-Südzone, Pseudonym Rivière:

Ich hatte eine äußerst schwerwiegende Entscheidung zu treffen. Die Offiziere des Untersektors A, die für die Bewachung von etwa 60 deutschen Gefangenen verantwortlich waren, (...) teilten mir mit, dass sie mit dieser Bewachung unlösbare Probleme hätten. (...)

Die Bewachung (...) an nicht eingezäunten Orten setzte eine ganze Abteilung des fünften Bataillons völlig außer Gefecht. (...)

Daher gebe ich folgenden Befehl: Jeder Gefangene, der sich gegen Hitler ausspricht, wird gefragt, ob er bereit ist, sich uns anzuschließen und mit uns gegen die Nazis zu kämpfen. Diejenigen, die sich dazu bereit erklären, werden einzeln und unter Aufsicht in unsere Einheiten aufgenommen. Die anderen müssen erschossen werden.

Am Morgen des 12. Juni 1944, Edmond Réveil erinnert sich, dass es ein sehr schöner Morgen war, wurden die Gefangenen aus der Scheune einen Hügel hinauf in die Heide geführt. Hannibal habe mit jedem der Männer einzeln gesprochen, auf Deutsch. Hannibal war Elsässer. An der Schule von Meymac gab er Deutschunterricht.

Er selbst, sagt Edmond Réveil, habe die Szene aus etwa 50 Metern Entfernung beobachtet. Er konnte nicht hören, was Hannibal sagte, er hätte es auch nicht verstanden. Aber er wusste, was Hannibal den Gefangenen eröffnete. Und er beobachtete, was geschah, als Hannibal sein letztes Gespräch beendet hatte. »Er hat heiße Tränen geweint.«

Meymac, ein 2300-Einwohner-Ort, liegt inmitten von Douglasienwäldern. So dunkel sind hier die Nächte, dass ein nahe gelegenes Plateau kürzlich zum Sternenhimmel-Reservat erklärt wurde. Man kann auch sagen: Es ist ziemlich wenig los in Meymac.

Philippe Brugère, der Bürgermeister, erinnert sich noch gut an den Abend, der den Ort aus der Beschaulichkeit riss. Es war ein Tag im März 2019, er hatte an der Jahressitzung des lokalen Veteranenvereins teilgenommen. Der Schatzmeister hatte schon Bericht erstattet, der Abend war so gut wie vorbei. Dann meldete sich der Ehrenpräsident zu Wort. Edmond Réveil. »Ich muss noch etwas sagen.«

Er erzählte vom 12. Juni 1944. Von den Gefangenen. Von Hannibal. Von den Männern, die oben in der Heide, die dort wuchs, wo heute die Douglasien stehen, ihr eigenes Grab schaufelten.

Zwanzig Personen im Raum – alle sprachlos, erinnert sich der Bürgermeister. Auch er selbst war entgeistert. Er hatte noch nie von der Exekution gehört.

Edmond Réveil sagte, es sei sein Wunsch, dass man den Ort wiederfinde. Vielleicht könne man eine Stele aufstellen, um der Opfer zu gedenken?

Der Bürgermeister informiert den Präfekten von Tulle. Wie ein deutsch-französisches Abkommen von 1966 es verlangt, wird die Nationale Veteranenbehörde beauftragt, nach den Überresten der Toten zu suchen. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge (VDK) in Kassel, in dessen Verantwortung die Umbettung der Gebeine liegt, sofern sie gefunden werden, wird benachrichtigt. Bevor die Öffentlichkeit von alldem erfahren kann, legt die Pandemie alles lahm.

Dann, fast vier Jahre nachdem er bei der Sitzung des Veteranenvereins das Wort ergriffen hat, gibt Edmond Réveil im Mai 2023 der Regionalzeitung La Montagne ein Interview. Er erzählt, genauer nun, von jenem Tag vor acht Jahrzehnten. Kurz vor der Exekution habe eine andere Widerstandsgruppe eine Frau gebracht, eine Kollaborateurin, damit sie sie ebenfalls erschossen. Die Partisanen hätten die Gefangenen einzeln getötet, einer schoss, einer starb. Nur die Frau habe keiner übernehmen wollen, das Los habe entschieden, wer es tun musste. Sie sei als 13. an der Reihe gewesen. Edmond Réveil sagt, er wünsche sich, dass die Familien der Getöteten erfahren, was geschehen ist.

Auf der Homepage von La Montagne hagelt es empörte Leserkommentare.

»Wer unsere Résistancekämpfer kritisiert, sollte sich schämen.«

»Im Krieg Mörder hinzurichten – ich weiß nicht, wo das Problem ist.«

»Noch einer, der die Gelegenheit verpasst hat zu schweigen.«

Edmond Réveils Freunde vom Veteranenverein sind angesichts des Worts charnier auf der Titelseite der Zeitung außer sich: »Massengrab«. Sie reden von Täter-Opfer-Umkehr, von der Beschmutzung der Résistance.

Edmond Réveil wundert sich. Er hat gegen das Wort Massengrab nichts einzuwenden. Wie anders soll man es nennen, wenn Dutzende Männer und eine Frau zusammen begraben sind?

Er spricht sogar von einem Kriegsverbrechen.

Für manche ist Edmond Réveil nun kein Held der Résistance mehr. Er ist ein Nestbeschmutzer.

Die Ungeheuerlichkeit dessen, was Edmond Réveil ausgesprochen hat, kann man nur ermessen, wenn man weiß, was in Tulle passierte, nachdem die Résistancekämpfer die Stadt verlassen hatten.

Es sind die Ereignisse, für die der Ort in Frankreich heute steht. Nicht für den Tüllstoff.

Einer der Deutschen, die den Angriff auf die Schule überlebten, war Walter Schmald, ein Mitglied des Sicherheitsdienstes der SS. Er war nicht gefangen genommen worden, weil er sich in einem Keller versteckt hatte. Am Morgen des 9. Juni 1944 – Edmond Réveil und die Gefangenen waren schon auf der Suche nach einem Quartier – stand Schmald, wie sich Zeugen später erinnerten, in einem zerschlissenen Mantel vor der örtlichen Waffenfabrik. Dort waren alle männlichen Bewohner von Tulle zusammengetrieben worden. Schmald selektierte. Er entschied, wer weiterleben durfte, wer deportiert wurde, wer hingerichtet werden sollte.

Noch am selben Tag wurden 149 Männer nach Dachau deportiert, von denen 101 nicht zurückkehrten. 99 blieben in Tulle. Sie wurden aufgehängt, viele an den eigenen Balkonen. Dazu ließen die SS-Männer Musik vom Grammofon spielen.

Die Geschichte von Tulle ist so düster, dass sie noch heute eine gewisse Schwere über die Stadt legt. Geht man durch den Teil von Tulle, in dem das Massaker geschah, sieht man nur wenige Balkone. Die meisten hat man nach dem Krieg abgeschlagen. Die Überlebenden konnten den Anblick nicht ertragen. Zum schwer zu Ertragenden gehört auch, dass der verantwortliche General Heinz Lammerding, 1951 von einem französischen Gericht in Abwesenheit zum Tode verurteilt, nie von Deutschland ausgeliefert wurde und unbehelligt eine Karriere als Bauunternehmer machen konnte. Und noch etwas gehört dazu. Die ewige Frage von Tulle, die noch heute debattiert wird, lautet: Wäre die Stadt verschont geblieben, wenn die Résistance die Nazis nicht gegen die Bewohner aufgebracht hätte? Könnte die Résistance also mitschuldig sein an der Tragödie?

Die Antwort, die die meisten Historiker geben, lautet: Nur einen Tag nach diesem Massaker beging die SS-Division »Das Reich« ein weiteres, in Oradour-sur-Glane. 642 tote Zivilisten. Zu dieser Tat waren die SS-Leute ohne jeglichen Anlass bereit. Ihr Ziel war es, die Bevölkerung zu terrorisieren.

Das Argument ist ein schwacher Trost für die Familien der Erhängten. Und deshalb ist das Einzige, worauf sich so ziemlich alle einigen können, das Selbstverständliche: Die Deutschen waren die Bösen.

Und nun sollen sie Opfer sein?

Hervé Dupuy ist Geschichtslehrer in Rente und Historiker, er forscht unter anderem über die kommunistische Résistance in der Region. Hört man ihm zu, dann klingt das Partisanendasein nach viel Schwere, nach Bedrohung und Ungewissheit, das Gegenteil vom Leben eines Schmetterlings.

Die Résistancekämpfer, sagt Hervé Dupuy, mussten, um überleben zu können und um ihre Aktionen auszuführen, ständig Dinge beschaffen: Essen, Waffen, Lastwagen, Benzin, Lebensmittelkarten. Beschaffen hieß: beschlagnahmen – die Nazis und die ihnen ergebenen Franzosen sagten »stehlen«. Ein Teil der Bevölkerung sah in den maquisards eher Banditen als Widerstandskämpfer. Und die Partisanen wussten nicht immer, wer im Ort Freund war und wer Feind. Manchmal wussten sie nicht einmal, ob sich nicht gegnerische Agenten in den eigenen Reihen befanden.

Wurde einer des Verrats oder der Spionage verdächtigt, gab es in einer Scheune oder im Wald eine Art Tribunal. Die meisten Verfahren endeten entweder mit Freispruch oder mit einem Todesurteil.

Als Hervé Dupuy Familien von Verantwortlichen der Résistance interviewte, sagten sie ihm, diese Männer hätten nie über ihre Kriegserlebnisse gesprochen. Zu den furchtbaren Dingen, die sie selbst erlitten und mit angesehen hatten, gehörte barbarische Folter durch die Deutschen. Vorstellbar, dass sie auch selbst furchtbare Dinge getan hatten.

Es gibt bis heute keine groß angelegte Studie über kollektive Exekutionen durch die Résistance. Hervé Dupuy kennt aber mehrere Beispiele, aus der Dordogne, aus Lyon, aus der Ariège. Auch den Fall von Meymac, einer größeren Öffentlichkeit bis vor Kurzem unbekannt, findet man in lokalhistorischen Quellen. Einige der Hinrichtungen, sagt Hervé Dupuy, seien sogar nach der Befreiung begangen worden. Es seien meist Vergeltungsaktionen gewesen.

Meymac war kein Einzelfall. Der Einzelfall ist Edmond Réveil, der darüber spricht.

Juni 2023, der Präfekt leitet eine Pressekonferenz in Meymac, im Trauzimmer des Rathauses. Die Journalisten quillen aus dem Raum heraus. Der Präfekt trägt Manschettenknöpfe. Feierlich verkündet er: »Frankreich ist verpflichtet, Deutschland die Körper zu übergeben.« Es handle sich nicht nur um eine juristische Verpflichtung, die Toten zu bergen, sondern auch um eine moralische.

Der Bürgermeister hat drei Erlasse herausgegeben: Fortan sei es verboten, im Gebiet von Meymac Metalldetektoren mit sich zu führen. Der Zugang zu der Stelle im Wald, an der die menschlichen Überreste vermutet werden, sei verboten. Und: Parkverbot in der Umgebung. Man will vermeiden, dass Hobbyforscher und Militariafans selber graben.

Arne Schrader, Abteilungsleiter Kriegsgräberdienst des VDK, ist aus Kassel zur Pressekonferenz angereist. Unter seiner Leitung werden pro Jahr 12.500 Tote ausgegraben und anschließend im Land des Fundes auf Soldatenfriedhöfen bestattet. Schrader trägt einen grauen Arbeitsanzug und Sicherheitsschuhe. Er spricht Edmond Réveil, den Freunde an diesem Tag wegen des Medienrummels aus Meymac weggebracht haben, offiziell seinen Dank aus. Réveils Aussage werde es vielleicht Familien ermöglichen, etwas über das Schicksal ihres Angehörigen zu erfahren.

Ein Vertreter des Veteranenvereins verliest mit steinerner Miene ein Kommuniqué, in dem er die Journalisten an ihre Verantwortung erinnert und der deutschen Delegation gutes Gelingen wünscht. Weiter werde man sich nun nicht äußern.

Ein Reisebus bringt die Journalisten zu dem Ort, an dem die Gebeine der Soldaten vermutet werden. Im Wald führt Schrader ein Georadargerät vor, das ein bisschen wie einer jener Kinderwagen aussieht, mit denen man joggen gehen kann. Vor dem Termin hat Schrader einen alten Stahlhelm vergraben, den das Gerät nun treffsicher aufspürt. Der Präfekt, vielfach fotografiert und gefilmt, darf es auch ausprobieren.

Mit dem Georadar kann man sozusagen eine Ultraschallaufnahme des Untergrunds machen. Man wird nicht sehen können, wo Skelettreste liegen, aber wo es Bodenveränderungen gibt. Die Aufnahmen werden in verschiedenen Schichten gemacht, ein Computer wird die Schichten übereinanderlegen und alles zusammenrechnen. Am Ende, so hofft man, lassen sich Verdachtsflächen identifizieren. Genau dort soll später in diesem Sommer gegraben werden.

Es liegt Aufbruchstimmung über Meymac und ein Hauch von Pfadfinderlager. Die alten Feinde von damals, in einem Projekt vereint, das hilft, mit dem Erbe dieses großen Krieges fertigzuwerden.

André Nirelli ist 67 Jahre alt, ein Landwirt in Rente. Er wohnt auf seinem Bauernhof im zu Meymac gehörenden Weiler Encaux, etwas unterhalb eines Waldgebiets. Hier in Encaux ist Nirelli groß geworden, schon sein Vater führte den Hof.

Er erinnert sich, wie der Vater in Richtung Wald deutete und zu ihm sagte: »Da oben sind im Krieg Deutsche umgebracht worden.« Und dass eines Tages, Ende der Sechzigerjahre, drei, vier fremde Männer oben im Wald zugange waren. Sie gruben Löcher, im Abstand von 20, 30 Metern. Als der Vater sie fragte, was sie da machten, und sie antworteten, dass sie die Deutschen suchten, da zeigte er ihnen, wo die Stelle war. Sein Vater habe das so genau gewusst, sagt André Nirelli, weil er manchmal, wenn er Holz einfuhr, aus der Erde neben den Rädern seines Wagens Knochen an die Oberfläche treten sah.

André Nirelli, damals etwa 13, stapfte den Hang hoch und setzte sich zu den Männern, die die Überreste einiger Leichen aus einer Grube hoben. Schädel, Schuhsohlen, Erkennungsmarken. Jeder Körper kam in einen Sack.

Von dieser ersten Exhumierung gibt es keinerlei Unterlagen in Frankreich, nicht im Rathaus von Meymac, nicht bei der Präfektur – als hätte es all das nie gegeben. Beim VDK gibt es rätselhafterweise keinerlei Skizzen, wie sie damals immer angefertigt wurden, um die Lage einer Grabung zu dokumentieren.

Was es gibt, ist der Bericht eines VDK-Mitarbeiters vom 22. Oktober 1969:

In betreffenden Wald, auf einer Länge von 200 m und einer Breite von 50 m wurden Sondierungen durchgeführt und am 5 Tag konnte ein Kameradengrab mit 11 dt. Gefallenen gefunden werden. (...)

Es besteht aber mit Sicherheit noch ein zweites Kameradengrab wo die restlichen Toten bestattet sind. (...) Die ehemaligen Wiederstandskämpfer haben sich untereinander abgesprochen nichts zu verraten. Vom Bürgermeister wurde ich darauf gebeten die Nachforschungen fürs erste einzustellen. 

Die elf Toten aus der ersten Grube wurden auf dem Soldatenfriedhof in Berneuil nördlich von Bordeaux bestattet. Sieben von ihnen konnten anhand ihrer Erkennungsmarken identifiziert werden. Erst jetzt, 54 Jahre später, wird die zweite Grube gesucht. Wegen Edmond Réveil.

»Man hat uns gesagt, wir sollen nie wieder darüber reden«, sagt Edmond Réveil. Noch nicht mal untereinander hätten sie geredet, auch nicht Hannibal und er. Hannibal, der Rechtsanwalt wurde und sein Berufsleben lang ehemalige Résistancekämpfer vertrat. Er, Edmond Réveil, der in Paris Karriere bei der französischen Bahn machte. Lange war er dafür zuständig, mit der Deutschen Bundesbahn Fahrpläne abzustimmen.

Edmond Réveil hielt sich an das Versprechen. Doch nun sind alle seine Mitstreiter tot. Er spricht nur noch für sich.

Noch heute kann man in Meymac mit Leuten reden, die einem sagen: Lasst doch die alten Geschichten ruhen. Andere im Ort treibt die Frage um: War der eigene Vater, der Onkel, der Großvater an der Erschießung beteiligt?

Am Waldrand oberhalb des Hofs von André Nirelli riecht es an einem heißen Augusttag nach frisch geschlagenem Holz und Diesel. Der VDK hat ein grünes Zelt aufgebaut. Die Franzosen sind mit sechs Leuten vor Ort, darunter eine junge Archäo-Anthropologin aus Marseille, die die Grabungen leiten wird. Der VDK ist mit zwölf Mitarbeitern aus Deutschland gekommen, die Bundeswehr ist mit vier Freiwilligen da. Und, noch einmal, die Journalisten.

Der Präfekt verkündet, im Zelt vor einer Magnetwand mit Fotos stehend: Bei der Georadar-Auswertung sei eine 45 mal 10 Meter große Verdachtsfläche identifiziert worden. »Wir haben ein Bündel von Indizien.«

Auf der Verdachtsfläche wurden 40 Bäume gefällt. Nun stecken nummerierte Fähnchen im Boden, ein gelbes Maßband liegt auf der Erde. Ein kleiner und ein großer Bagger heben einen Graben aus. Im Graben stehen drei Archäologen mit blauen Helmen, bereit, jederzeit einzuschreiten, sollten die Schaufeln der Bagger auf etwas Verdächtiges stoßen. Dann wird die Archäo-Anthropologin mit feinen Zahnarzt-Instrumenten weitermachen.

Acht Tage Arbeit sind vorgesehen.

Am zweiten Tag geht der Minibagger kaputt. Den größten Teil der Verdachtsfläche haben sie schon abgearbeitet – nichts. Am Abend sitzen die VDK-Leute frustriert im Hotel.

Am dritten Tag schickt der Bürgermeister einen städtischen Mechaniker. Der Minibagger läuft wieder. Die Archäo-Anthropologin sagt, es sei ermüdend, den ganzen Tag auf die Schaufeln der Bagger zu starren. Wenn sie fündig werden, sagt sie, wird sie die Gebeine nach Marseille fahren, in ihr Institut. Sie wird sie untersuchen, um Alter, Geschlecht, Größe zu bestimmen. Vielleicht die Todesursache. Und dann wird sie die Gebeine an die Bundesrepublik Deutschland übergeben.

Am vierten Tag reist Arne Schrader vom VDK vorzeitig aus Kassel an. Seine Kollegen sagen, der sieht ein Gelände und weiß, wo er suchen muss.

Am sechsten Tag findet das Team Kugeln und Hülsen von französischen, deutschen, amerikanischen und schweizerischen Waffen, die vor 1944 hergestellt wurden, außerdem einige Münzen aus der Zeit vor 1943 und Reste eines Portemonnaies mit einem Druckknopf französischen Fabrikats.

Aber keine Knochen, keine Erkennungsmarken.

Am achten Tag geben die französischen Behörden und der VDK bekannt, dass sie die toten Soldaten nicht gefunden haben. Das Georadar-Gerät muss aus anderen Gründen angeschlagen haben, vermutlich wegen Quarzadern im Gestein.

Man hofft nun auf alte Luftbilder, die bei der US-Armee lagern, man könnte sie mit neuen Aufnahmen abgleichen und so rückschließen, wie sich das Gelände seit der Kriegszeit verändert hat. Wege wurden verlegt, das könnte die Augenzeugen verwirrt haben.

Man hofft auf neue Erkenntnisse durch ein Lidar-Gerät, eine Art Laserscanner, der ein Bild einer Landschaft erstellen kann, auf dem Pflanzen sozusagen unsichtbar gemacht sind – als würde man alle Bäume fällen, alles Wurzelwerk rausreißen.

Man hofft darauf, dass man bei der Gendarmerie doch noch Aufzeichnungen über die erste Exhumierung findet – denn wenn man die erste Grube lokalisieren kann, dann kann die zweite nicht weit sein.

Wie lange das alles dauern wird, weiß niemand.

In Meymac ist die Erde aufgewühlt. Aber ein Ende dieser Geschichte ist für Edmond Réveil nicht in Sicht.

Noch also lassen sich die Toten, die unter der Erde liegen, nicht finden. Noch kann man diesen Schlussstrich nicht ziehen. Aber ist es vielleicht möglich, die Angehörigen derjenigen ausfindig zu machen, die 1969 exhumiert wurden?

Alfred Löchner, geboren 1907 in Tübingen.

Heinrich Baus, geboren 1903 in Kirn.

Robert Lansche, geboren 1905 in Ellerstadt.

Willi Kornowsky, geboren 1901 in Berlin.

Kurt Wiesner, geboren 1907 in Berlin.

Karl Ludwig, geboren 1903 in Attenhausen.

Johannes Niewels, geboren 1905 in Meerhof.

Das sind die Männer, die man anhand ihrer Erkennungsmarke identifizieren konnte.

Ein paar von ihnen findet man in Suchlisten des Deutschen Roten Kreuzes wieder, mit Foto. Einer von ihnen war Schneider, einer war Landwirt, einer kaufmännischer Angestellter, einer Arbeiter.

Bis auf einen gehörten die Soldaten dem Sicherungsregiment 95 an. Es hatte den Auftrag, Tulle zu sichern – und die Partisanen zu bekämpfen.

Eine Internetsuche nach Familien mit den Namen der Identifizierten. Eine Traueranzeige von 2007: Kinder und Enkelkinder nehmen Abschied von einem Johannes Niewels, »ein erfülltes Leben ging im Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit zu Ende«. Der Johannes Niewels aus der Traueranzeige wurde in Meerhof bei Paderborn geboren, wie der tote Soldat. Aber die Jahreszahlen passen nicht, der Betrauerte wurde 1933 geboren, im Jahr 1944 wäre er also erst elf gewesen. Gab es zwei Johannes Niewels, und war der junge vielleicht der Sohn des alten?

Ein Wohnzimmer in Meerhof, das Wiedersehen einer Familie. Birgit Mertens hat ihren Cousin und ihre Cousine lange nicht gesehen. Das Haus, in dem sie jetzt sitzen, sagt der Cousin, der hier lebt, sei früher ein Stallgebäude gewesen. Hier hatte der Großvater der drei, im Hauptberuf Waldarbeiter, seine Kühe. Die Milch der Kühe fuhr er mit einer Kutsche aus.

Johannes Niewels war Nebenerwerbslandwirt, er hatte drei Kinder, der älteste Sohn hieß wie er. Nun erzählen die Enkel, dass ihr Großvater als Landwirt mit mehreren Kindern eigentlich gar nicht in den Krieg gemusst hätte. Er sei erst 1942 eingezogen worden, mit 37. In der Familie habe es immer geheißen, dass er Streit mit einem Nazi gehabt habe. Zwei Tage später sei er weg gewesen.

Mehr als 20 Jahre lang, sagt Birgit Mertens, habe ihre Großmutter Abend für Abend am Fenster ihres Schlafzimmers gestanden und auf ihren Mann gewartet. Die Großmutter starb 1966, ohne mit Sicherheit zu wissen, dass sie Witwe war.

1971 wurde der Familie mitgeteilt, dass Johannes Niewels in Frankreich verstorben sei. In Berneuil sei er bestattet. Aber Partisanen, eine Gefangenschaft, eine Exekution? Die drei Enkel sagen, davon hätten sie nie etwas gehört.

Schon immer, sagt Birgit Mertens, habe sie sich für diesen Großvater, den sie nie getroffen hat, interessiert.

Sie packt die Feldpostbriefe und Fotos aus, die sie später auch Edmond Réveil zeigen wird. Das Papier ist glatt und weich, Seite um Seite ist mit Tinte beschrieben, in geschwungener Schrift. Ein paar Flecken, Tintenkleckse.

Die Briefe, die der Gefreite Johannes Niewels an seine Frau Agathe schrieb, genannt Atti, lagen jahrzehntelang in einer Kommode auf dem Dachboden des Hauses in Meerhof. 2010 fotografierte Birgit Mertens sie, entzifferte sie, tippte sie ab. Dann konzipierte sie ein Fotobuch, ein Geschenk für ihre Mutter, die heute nicht mehr lebt – das jüngste Kind von Johannes Niewels.

20. März 1944: Nun sitze ich hier so ganz alleine im Bunker. Ein Kamerad ist auf Wache und die zwei anderen sind bei den anderen Kameraden in ihren Bunkern und spielen Karten. Es ist mir so richtig einsam und verlassen ums Herz. 

12. Mai 1944: Ja wir müssen uns auf den nächsten Urlaub vertrösten, liebe süße Atti, noch besser wäre natürlich wenn das Kriegsende schon recht bald käme und wir uns gesund für immer in die Arme fallen könnten.

2. Juni 1944: Die Augen tun mir weh, liebe Frau, die Marquis haben uns wieder die Luftleitung kaputt gemacht, ich musste bei der Kerze schreiben.

Fast ein Jahr lang arbeitete Birgit Mertens mit ihrem damaligen Mann an dem Fotobuch. Mit jedem Brief glaubte sie ihren Großvater besser zu kennen. Als das Buch fertig war, fuhr sie nach Frankreich, von einem Ort, den er erwähnt hatte, zum nächsten.

Manche der Briefe klingen, als sei Johannes Niewels im Urlaub, nicht im Krieg. Mal langweilt er sich, mal schreibt er von Kameraden, die mittags das Hemd ausziehen und ein Sonnenbad nehmen. Er schwärmt von den »schönen Landschaften«, von den Leuten, die in den Gärten und auf den Feldern »fleißig am Schaffen« seien. Dann wieder: Angst im dunklen Bunker, »Scheißbedingungen«, Sehnsucht, Heimweh. »Das viele Herumliegen in alten Scheunen und Baracken, oder kaputten Häusern, ohne Türen und Fenster, macht uns ja doch auch krank mit der Zeit.«

Auch von den Partisanen schreibt Johannes Niewels. Bei ihm heißen sie »Terroristen«. Tag und Nacht seien sie auf der Suche nach ihnen. Dörfer, die »mit den Banden« unter einer Decke steckten, würden »ausgeplündert und angesteckt«, die »Hauptübeltäter umgelegt«.

Den letzten Brief schreibt Johannes Niewels aus Tulle, einen Tag vor der Landung der Alliierten, drei Tage bevor er gefangen genommen wird. Der »Auftrag« sei noch nicht ganz erfüllt, er wisse auch nicht, ob sie es schaffen. Johannes Niewels erwartet, »daß das Ende von selbst kommt, die Zeit bringt reifen Roggen«.

Birgit Mertens suchte im Internet nach »Tulle« und »1944«. Was sie las, entsetzte sie. Hatte ihr Großvater mit dem Massaker an Zivilisten zu tun?

Nach der Anfrage der ZEIT haben die drei Enkel im Internet über Edmond Réveils Enthüllung gelesen. Sie bitten darum, ihm auszurichten, dass die Familie keinen Groll gegen ihn hege.

Birgit Mertens sagt, sie empfände es als großes Glück, wenn sie die Möglichkeit bekäme, Edmond Réveil zu treffen.

Der VDK und das Bundesarchiv forschen nach Unterlagen zu Johannes Niewels. Es ist alles da: Dokumente vom Roten Kreuz, das Nachforschungen über den Verbleib des Vermissten angestellt hatte. Die »Umbettungskladde«, eine Art Karteikarte mit einer schematischen Darstellung des Skeletts und den eingezeichneten Verletzungen am Schädel, mit der geschätzten Körpergröße, dem Gebissstatus. Der Vermerk, dass bei den Gebeinen von Johannes Niewels ein Füllfederhalter und eine Brieftasche gefunden wurden.

Knapp drei Wochen später sitzt Birgit Mertens neben dem alten Mann mit den grauen Augenringen am Esstisch. Sie liest ihm Passagen aus dem Buch vor. Einmal fällt eine einzelne Träne aus einem von Edmond Réveils Augen auf die Tischdecke.

Er fragt, was ihr Großvater von Beruf war, wo aus Deutschland er herkam.

Sie fragt, wie die letzte Nacht in der Scheune war und ob er sich erinnere, dass jemand von den Deutschen Französisch sprach. Ihr Großvater habe ein wenig Französisch gekonnt, vielleicht habe er mit ihm geredet. Réveil sagt, ja, es gab ein, zwei Gefangene, mit denen er gesprochen habe, aber mehr wisse er leider nicht mehr. Er erzählt ihr vom gemeinsamen Essen mit den Gefangenen, von der Langeweile.

Langsam tasten sich die beiden zum entscheidenden Moment vor. Wie haben die Soldaten auf die Ankündigung ihres Todes reagiert? »Wie gute Soldaten«, sagt Edmond Réveil, was nach einem Kompliment klingt, einem Zeichen des Respekts.

Birgit Mertens kann es sich nicht vorstellen. Sie haben nicht geweint, nicht geschimpft, keiner versuchte wegzulaufen?

»Nein, sie waren ganz ruhig«, sagt Edmond Réveil. Hannibal habe ihnen das Angebot gemacht, überzulaufen, aber sie hätten es ausgeschlagen. Alle außer sieben Polen und Tschechen, die sich unter den Wehrmachtsoldaten befanden. Diese sieben seien verschont worden.

Wieder fragt sie nach, ungläubig. Dieser Mann, der sehnsuchtsvolle Briefe an seine Frau schrieb, der süße und innigste Küsse schickte und getrocknete Blumen – der wollte lieber für Hitler sterben als die Seite wechseln?

Edmond Réveil erzählt, wie die Soldaten sich hinsetzten und ihre Habseligkeiten anschauten. »Sie holten ihre Brieftaschen heraus, die Fotos ihrer Familien.« Birgit Mertens, die in den Briefen ihres Großvaters gelesen hat, dass er stets eine Locke seiner Tochter, ihrer Mutter, bei sich trug, braucht einen Moment, um sich zu fangen.

Dann fragt sie: »Haben Sie geschossen?«

»Nein«, antwortet Edmond Réveil. Hannibal habe nach Freiwilligen gefragt. »Ich habe nicht mitgemacht. Ich bedauere sehr, dass Ihr Großvater hier Opfer einer Hinrichtung wurde.«

Birgit Mertens, tröstend fast: »Ich wusste immer, dass er im Krieg gestorben ist.«

Edmond Réveil sagt, der Unterschied sei der: Wenn man in einem Kampf töte, dann wisse man nicht, wen man töte. »In dem Fall wusste man es.« Aber eines sei ihm wichtig: »Es war kein Racheakt.« Von den Toten von Tulle hätten sie nichts gewusst.

Birgit Mertens sagt: »Ich habe mich immer gefragt, ob mein Großvater mit an den fürchterlichen Dingen in Tulle ... ob er da war und etwas getan hat. Ob er sich an den Erhängungen beteiligt hat.«

»Nein«, sagt Edmond Réveil. Sie hatten Tulle ja längst verlassen, als dort das Massaker begann.

»Ich bin sehr erleichtert«, flüstert Birgit Mertens.

Schwer zu sagen, wer von den beiden am Ende des Gesprächs erschöpfter ist, von wem die größere Anspannung abfällt.

Eine halbe Stunde später steht Birgit Mertens auf dem Hof von André Nirelli. Der Ort, an dem ihr Großvater erschossen wurde, ist nur ein paar Hundert Meter entfernt. Ob die exakte Stelle noch gefunden wird, ist unklar. Aber für Birgit Mertens ist es ohnehin nicht der Ort der Hinrichtung, der zählt. Es ist die Scheune. In ihrem Kopf, sagt sie, hat sich ein Bild zusammengebaut. Nun will sie schauen, ob das Bild zur Wirklichkeit passt.

Die alte Scheune, aus Naturstein gebaut, liegt am Rande des Hofs, hinter dem Hundezwinger. Sie wird nicht mehr benutzt. Dort, wo früher ein Tor war, ist jetzt ein offener Eingang. Drinnen: ein ausgedienter Traktor und eine alte Sämaschine. Am Boden liegt Heu, in der Ecke ein Misthaufen. Der Zwischenboden, der die Kühe und die Gefangenen trennte, ist lange herausgerissen.

Birgit Mertens steht da und guckt in die Höhe, dorthin, wo sie damals waren.

Zum Abschied hat sie zu Edmond Réveil gesagt: »Jetzt ist die Geschichte komplett.«