Nominiertes Projekt „WeiterLeben – Der Nachrufe-Podcast des ‚Mannheimer Morgen‘ für die Region“
Von Agnes Polewka
Podcast Folge 2
"Hallo, ich bin Agnes Polewka. Und ich freue mich sehr, dass Du bei unserer ersten Folge von Weiterleben dabei bist. Weiterleben - das ist der Nachrufe-Podcast des Mannheimer Morgen. Ein Format, in dem wir über das Leben sprechen. Und über das Sterben.
Die meisten von uns sprechen nicht gern über den Tod. Wir denken noch nicht einmal gerne daran. Aber wenn wir ehrlich sind, macht erst der Tod unser Leben so wertvoll. Er hält uns dazu an, uns die großen Fragen zu stellen: Was macht ein gutes Leben aus? Wer wollen wir sein? Wer können wir sein? Und warum ist das wichtig?
Ich erzähle im Weiterleben-Podcast die Geschichten von besonderen Menschen, die etwas in der Region bewegt haben. Und die hier auch nach ihrem Tod weiterleben. Ich habe mit Partnerinnen gesprochen, mit Söhnen und mit Freunden. Mit Wegbegleitern. Sie alle haben sich mit uns erinnert. Und durch sie haben wir mehr über außergewöhnliche Menschen erfahren. Ihr hört Weiterleben, einen Podcast des Mannheimer Morgen und von mir, Agnes Polewka."
Wir sprechen heute über Tobias Mußler – Tobias war in erster Linie Winzer. Er war aber auch ein Pionier. Und ein Mann, der das Leben geliebt hat.
O-Ton Sabine Mußler: Tobias muss unterbewusst irgendwie gespürt haben, dass er nicht so viel Zeit hier hat, auf dieser Erde, in diesem Leben. Und hat alles, was er irgendwie erreichen und erleben wollte, in diese kurze Zeitspanne gepackt. In diese 40 Jahre.
Tobias ist am 24. Mai 2016 gestorben. Mit 40 Jahren.
Und wärst du eine Träne in unseren Augen, würden wir nie mehr weinen, um dich nicht zu verlieren.
Diese Zeilen stehen auf Tobias‘ Todesanzeige, darunter die Namen, der Menschen, denen Tobias so viel bedeutet hat.
Ganz oben: Sabine Mußler.
Ich treffe Sabine Mußler in Bissersheim. 16 Jahre lang ist sie hier mit Tobias durchs Leben gegangen.
Das Weindorf liegt im Leiningerland, zwischen Bad Dürkheim und Grünstadt. Am Kraut- und Rübenweg, der bis an die französische Grenze führt, liegt das Weingut Mussler.
Und das katapultiert Besucher gefühlt mitten in die Toskana. Mit einer Villa im mediterranem Stil – der Vinothek des Weinguts. Daneben eine Allee aus Zypressen. Dazwischen haben drei Generationen von Mußler-Frauen Rosen und Lavendel gepflanzt. Dahinter der gepflasterte Hof, über den Lichterketten gespannt sind, die laue Sommernächte erhellen. Weinfässer, zu Stehtischen umfunktioniert.
Und mittendrin der Zugang zum Weinkeller, mit den Stahltanks, in denen Riesling und Chardonnay gären. Und den Holzfässern, in denen Spätburgunder und Cabernet reifen.
Das Weingut ist Tobias Mußlers Vermächtnis. Um zu verstehen, welche Bedeutung dieser Ort hat, muss man ein bisschen ausholen und eintauchen, in die Geschichte dieses Fleckchens Erde.
O-Ton Sabine Mußler: Die Weinbautradition lebt schon seit 1831 in unserer Familie. Und es war tatsächlich so, dass die Winzermänner sich auch immer ein Winzermädchen zur Frau genommen haben. So ist das Weingut eigentlich immer von Jahr zu Jahr gewachsen.
Bis hin zu Arnold und Ortrud Mußler, die Anfang der 70er Jahre das Land ihrer Vorfahren bewirtschaften, um Wein zu machen. Eine schwere Arbeit. Tagsüber schuften sie auf dem Feld, abends verkaufen sie Wein.
Arnold Mußler ist viele Jahre Bürgermeister im kleinen Weindorf Bissersheim mit seinen 400 Einwohnern.
O-Ton Sabine Mußler: Der Arnold war und ist auch noch ein super Kaufmann, er hat dieses ganze Kaufmännische abgedeckt. Die Ortrud war eher die Schafferin, die im Weinberg war, die war so naturverbunden, die wollte einfach mit den Händen und in der Natur arbeiten. Der Arnold dann eher der Kaufmann, aber ich denk die Kombi hat’snatürlich auch gemacht, man braucht ja auch beides.
Das Paar zieht vom Ortskern an den Goldberg, dorthin, wo sich das Weingut der Familie bis heute befindet. Sie bekommen zwei Kinder – Sibylle und Tobias.
Und während Sibylle früh einen anderen Weg einschlägt - sie wird Lehrerin - steht für Tobias Mußler bald fest, dass er in den elterlichen Betrieb einsteigen will. Er will ihn modernisieren, neue Wege gehen.
Wie viel er tatsächlich bewegen wird, durch seine Leidenschaft und durch die Art, wie er Dinge anpackt, das ahnt damals noch niemand.
Nach seiner Winzer-Lehre und der Techniker-Ausbildung will Tobias ins Ausland. Schauen, was andere Winzer auf der Welt tun. In den USA oder in Südafrika. Wie sie Wein machen und ihn kultivieren.
Doch dann kommt das Leben dazwischen. Und Tobias übernimmt mit 24 Jahren mehr Verantwortung als geplant. Zumindest viel früher als gedacht.
O-Ton Sabine Mußler: „Tobias‘ Mama, die Ortrud ist leider 1999 gestorben, auch an einer Krebserkrankung. Das war für ihn auch eine ganz schwierige Zeit. 99 ist sie verstorben, wir haben uns da ja auch schon gut gekannt, und da hat man gespürt, dass es sehr schwer war, für ihn.
Für Tobias steht fest, dass er seinen Vater im Weingut unterstützen muss. Er packt die Dinge an, er will die Dinge voranbringen und verbessern. Aus 30 Hektar Land werden 55. Und Tobias will die Art und Weise, wie seine Familie Wein macht, verändern. Er beschafft neue Tanks, die mehr können. Er probiert neue Sorten aus.
Auch den Hof, die Gebäude verändert er.
O-Ton Sabine Mußler: Die Familie Mussler waren schon immer Italien-Fans, sind schon gern nach Italien gereist, Tobias und ich dann auch. Tobias‘ Schwester hat sogar in Florenz studiert und es war immer so ein beliebtes Reiseziel.
1989 pflanzte Ortrud Mussler Zypressen, die sich in den nächsten Jahrzehnten zur Allee auswachsen sollten. Ihre Mutter, Tobias‘ Oma, setzte Rosen und Lavendel zwischen die duftenden Nadelbäume.
Das „Geburtsjahr“ der Zypressen hat sich tief in Tobias‘ Gedächtnis eingebrannt. Immer wieder erzählt er den Menschen, die ihm etwas bedeuten, dass die mediterranen Nadelbäume 1989 nach Bissersheim kamen.
Das neue Jahrtausend ist noch jung, als Tobias über eine neue Probierstube nachdenkt.
O-Ton Sabine Mußler: „Ein kleines toskanisches Gartenhäuschen, so war der Plan (lacht). Wir waren wie gesagt so oft in der Toskana und das hat uns so gut gefallen und dann haben wir gedacht, zu der Zypressenallee würde ein kleines toskanisches Gartenhaus gut passen. Als Probierstube. Wir hatten die klassische Probierstube und dachten, eine schöne kleine Probierstube im Garten zum Weine verkosten und irgendwie ist es dann größer ausgefallen, das toskanische Gartenhäuschen und die Probierstube. Wir haben dann gedacht, wenn wir schon etwas bauen, können wir es gleich etwas größer bauen, dann machen wir gleich eine kleine Küche mit rein, falls mal Weinproben sind, um da was vorzubereiten. Und ja, hat der Tobias dann gedacht, wenn wir es schon bauen, machen wir oben noch ein Büro rein. So ist es dann etwas größer ausgefallen, unser Gartenhäuschen.
Tobias Mußler fährt eines Abends spontan mit Sabine nach Italien, um am nächsten Morgen im Steinbruch den Marmor für seine neue Vinothek auszusuchen. Einige Tage später fährt er mit dem Lkw noch einmal los, um die Ladung abzuholen. Außerdem besorgt er in Italien ganz bestimmte Ziegel, mit denen das Dach des toskanischen Gartenhäuschens gedeckt wird. Es ist längt kein Häuschen mehr, sondern wächst sich zu einer stilvollen Vinothek aus.
O-Ton Sabine Mußler: Wir waren natürlich oft hier unten auf der Baustelle und haben geguckt, wie es vorangeht. Freunde von uns die waren oft mit dabei, und wir sind hier ja direkt am Kraut- und Rübenweg. Und da sind viele Fahrradfahrer und Fußgänger und viele sind stehen geblieben und haben gefragt, was baut ihr denn hier? Ist das ein Wohnhaus? Nee, nee eine Vinothek gibt des. „Ach toll“ und „Kann man bei Ihnen auch was trinken und essen?“ Und so kam irgendwie die Idee auf, „eigentlich nicht, aber wenn Sie wollen, kommen Sie her, wir schenken gern eine Schorle ein“. Und so hat sich das tatsächlich ergeben, dass die Leute zu uns gekommen sind, was gegessen und getrunken haben.
Die Vertriebsidee funktioniert. Während der Bauphase und danach.
2007 öffnet die Vinothek und gehört zu den ersten ihrer Art in der Vorderpfalz. Die Menschen fühlen sich wohl dort. Die kurze Rast wird zur stundenlangen Einkehr.
Am Anfang kommen Einheimische, Männer und Frauen aus den umliegenden Dörfern. Trinken ein Viertel Grauburgunder oder ein Glas Basilikum-Secco, teilen sich eine Antipasti-Platte. Ihr Lachen hallt durch die Vinothek mit ihren warmen Farben, dem Orange und dem Beige. Dem warmen Steinboden.
Dolce Vita in der Pfalz. Tobias genießt das.
O-Ton Sabine Mußler: „Er hat sich so gefreut und wie sich das alles entwickelt hat, Tobias war ein toller Gastgeber hat jeden einzeln begrüßt wenn es ging und hat sich über jeden gefreut. Die Leute haben noch nicht gesessen und hatten schon einen Schorle in der Hand. Er hat das geliebt, er hat das einfach geliebt.
Am Anfang hat die Vinothek noch keine festen Öffnungszeiten. Doch die Nachfrage steigt. Und irgendwann öffnet sie an jedem Wochenende. Von freitags bis sonntags.
Ein Ambiente, das sich wie Urlaub anfühlt. Das gibt es damals nicht oft. Tobias Mußler leistet Pionierarbeit. Donnerstags veranstaltet er After-Work-Partys auf dem Weingut, auch das ist zu dieser Zeit etwas ganz Neues.
Später kommen die Besucher auch von weiter weg. Aus Mannheim und aus Heidelberg, aus Karlsruhe und aus Frankfurt. Es hat sich herumgesprochen, dass man im Weingut Mussler eine gute Zeit haben kann.
Tobias schafft einen Ort, den immer mehr Menschen auch für private Feiern entdecken. Vor allem für Hochzeiten. Samstag für Samstag feiern Paare in der Vinothek ihr Ja-Wort. Und über die Jahre wird das Weingut Mussler zur Kult-Hochzeitslocation für Paare aus ganz Deutschland. In den Sommermonaten ist die Vinothek regelmäßig ausgebucht.
Am 24. Juli 2010 heiraten Tobias und Sabine. Da sind sie schon seit über zehn Jahren ein Paar.
O-Ton Sabine Mußler: „Wir haben wo anders gefeiert, aber unseren Polterabend haben wir hier gefeiert, mit ganz vielen Leuten, richtig groß und es war total schön“
Die beiden kennen sich da schon fast ihr ganzes Leben lang.
O-Ton Sabine Mußler: „Ich komme ja aus dem Nachbarort, aus Großkarlbach, und ja ich habe Tobias oft im Bus gesehen. Ich war dann immer bisschen aufgeregt, ich fand ihn, er war halt auch schon immer sehr cool. Da fand ich ihn schon immer ganz toll, für mich. Ich habe dann mit 12 Jahren einen Hund bekommen, den habe ich tatsächlich Tobi genannt, weil Tobias mir schon so gut gefallen hat.
Wir waren eine Clique, waren viel auf Partys, und haben viel zusammen unternommen, er war viel bei uns zu Hause mit anderen Freunden, und wir hatten schon immer ein ganz besonderes Verhältnis, aber wie das manchmal so ist, entweder hatte ich dann einen Freund oder er eine Freundin, irgendwie hat es nie so ganz gepasst. Aber irgendwann dann doch. Irgendwann hat es dann wirklich Boom gemacht und wir sind zusammen gekommen.
2000 werden Tobias und Sabine ein Paar.
Über die Jahre wachsen sie gemeinsam aus ihrer Jugendliebe heraus. Sie gestalten ihren Alltag zusammen. Sabine ist an seiner Seite, als Ortrud stirbt und er in das Weingut einsteigt.
O-Ton Sabine Mußler: Es war natürlich immer was los, es war nie langweilig, aber auch anstrengend. Tobias hatte so unfassbare Energie. Für einen Partner ist es manchmal schwer, da mitzuhalten, weil er auch einfach kein Ende kennt. Beim ihm ging es immer weiter, immer weiter. Ich habe wirklich, ich kenne bis heute keinen Menschen, der so viel Energie hatte wie Tobias. Es war auf der einen Seite sehr schön und motivierend für alle um ihn herum, aber manchmal auch anstrengend, weil man selbst natürlich vielleicht nicht so viel Energie hatte.
Manchmal verreisen sie, um abzuschalten, aber lange hält Tobias das nie aus.
O-Ton Sabine Mußler: „Klar wir wollten auch Urlaub machen und das war ja auch ganz wichtig, weil wir hier super eingespannt waren, sieben Tage die Woche. Haben wir uns auch ganz oft vorgenommen, sind dann auch verreist, aber wir sind wirklich aus jedem Urlaub mindestens zwei, drei Tage früher abgereist, weil er es einfach nicht mehr ausgehalten hat. Er wollte zurück in den Betrieb, er er hat immer gesagt: Wenn ich den Kirchturm von Bissersheim sehe, geht es mir gut. Er war auch so umtriebig, und er wollte einfach hier zu Hause im Weingut sein und hier arbeiten und es immer weiter voranbringen.
„Tobi“, wie ihn seine Freunde nennen, hat so viel Energie. Und Charisma. Und Humor.
Immer wieder spielt er Sabine Streiche, stellt zum Beispiel nachts alle Uhren vor und gaukelt ihr vor, sie müsse zur Arbeit.
„Er hat immer gesagt, das hat er von seinem Opa, der war wohl auch so lustig.“

Sie lachen viel zusammen. Zu zweit und mit anderen. Tobi ist beliebt. Die, die ihn gut kennen, beschreiben ihn als Menschen, der selten Nein sagen kann. Als einen, der fast schon zu gut ist, für diese Welt. Einer, der ein bisschen verrückt ist.
Und als starken Mann. Als jemanden, der nicht aufgibt. Der kämpft und im tiefsten Schwarz immer noch das Licht sucht. Dieses tiefe Schwarz kommt 2013 in sein Leben, als er zusammenbricht und mit 37 eine niederschmetternde Diagnose bekommt. Tobias hat einen Hirntumor. Einen von der besonders schlimmen Sorte.
O-Ton Sabine Mußler: Es war natürlich erstmal ein Riesenschock. Die Ärzte hatten ihm ja auch gesagt, dass die Lebenserwartung nur ein halbes Jahr sei, das ist erstmal, das kann man sich gar nicht vorstellen. Und dann dieser Schockzustand hat dann gar nicht so lange angehalten, weil er dann sofort irgendwie gesagt hat: Nee, das kann ich nicht sein. Ich habe nicht nur noch ein halbes Jahr zu leben. Ich will hier noch nicht gehen und ich kämpfe. Und ich lass mich nicht unterkriegen.
Er ist ganz offen mit dem Thema umgegangen, hat viel, viel über das Thema gesprochen, mit der Familie, mit Freunden, aber auch mit den Gästen, wir haben ganz viele liebe Stammkunden, die wirklich jedes Wochenende kommen, und hat dann ganz offen über seine Krankheit, über seine Ängste gesprochen und das hat ihm gut getan. Für ihn war es aber auch wichtig, dass alle positiv waren, ihn bestätigt haben, ihm gesagt haben: Na klar und du schaffst es und du siehst so gut aus, und du schaffst das und nein, du lässt dich nicht unterkriegen. Das war ganz, ganz wichtig für ihn.
Tobias weigert sich einfach, das zu glauben. Es ist zu früh für ihn. Viel zu früh. Er hat noch so viel vor. Er lässt sich behandeln. Ansonsten schenkt er der Krankheit so wenig Aufmerksamkeit wie möglich. Und dann sieht es so aus, als ob es ihm tatsächlich gelungen wäre, den Krebs zu bändigen. Zwei Jahre lang führt Tobias wieder sein normales Leben. Feiert das, was er hat. Und macht so weiter, wie immer. Denn Tobias liebt sein Leben. Genau so, wie es ist. Mit den Menschen darin. Und der vielen Arbeit, ohne die er es einfach nicht aushält.
Doch dann geht alles ganz schnell. Anfang 2016 ist sich auch Tobias nicht mehr sicher, ob er es schafft, oder ob sein Leben mit 40 Jahren tatsächlich schon zu Ende gelebt sein könnte. Über die Details zu sprechen, fällt Sabine Mußler schwer. Über diese letzten Monate, Wochen, Tage, in denen sich alles verändert hat. Über Tobias‘ Abschied.
O-Ton Sabine Mußler: Er war so traurig, er war tief, tief traurig.
Am 24. Mai 2016 stirbt Tobias Mußler.
O-Ton Sabine Mußler: Er hat einfach immer gesagt: Es ist einfach zu früh, ich will hier noch nicht weg. Betrieblich wollte er noch weiter vorankommen. Ich glaube, es hat ihm noch gar nicht ausgereicht, den Erfolg, den er schon hatte. Er ist ja schon wahnsinnig vorangekommen, und hat hier Unfassbares schon gemacht, aber es hat eben noch nicht ausgereicht. Ja, und wir wollten noch Familie. Er hat einfach zu gerne gelebt und das alles hier so sehr geliebt, dass er nicht gehen wollte.
Und so bleiben wichtige Dinge unerledigt, die er gerne noch vorangetrieben hätte. Tobias stirbt mit 40 Jahren. Und zurück bleiben Menschen, die nicht glauben können, dass er weg ist. Und ein Weingut. 55 Hektar Weinberge, zehn Mitarbeiter. Ein Schiff ohne Kapitän.
O-Ton Sabine Mußler: „Aber er hat immer zu mir gesagt: Wenn ich es doch nicht schaffen sollte, wünsche ich mir, dass du das Weingut und die Vinothek und das alles weitermachst. Und ich habe es nicht bejaht, aber auch, weil es für mich ganz klar war, irgendwo. Aber richtig ernsthaft Gedanken drüber habe ich mir auch nicht gemacht, weil ich wollte es natürlich nicht, dass er es nicht schafft. Oder mir das vorstellen, dass er es vielleicht doch nicht schafft. Und man hat das dann natürlich immer so auf die Seite geschoben.“
„Wir haben nie einen Plan gemacht“
Und so steht Sabine Mußler drei Tage nach dem Tod ihres Mannes im Hof seines Weinguts und verkündet den Mitarbeitern, dass es weitergeht. Dass es irgendwie weitergehen muss. Auch wenn sie selbst noch nicht genau weiß, wie.
Sabine ist 38 Jahre alt. Sie kündigt ihren Job als Pädagogin bei der Lebenshilfe in Bad Dürkheim und übernimmt Tobias‘ Betrieb. Auch Sabine stammt aus einer Weinbaufamilie. Ein Winzersmädchen. Doch hauptberuflich wollte sie eigentlich etwas anderes machen.
2016 sieht sie keine Alternative. Das Weingut ist Tobias‘ Lebenswerk. Es zu verkaufen oder in fremde Hände zu geben – für Sabine keine Option.
O-Ton Sabine Mußler: Es ging dann weiter. Und das erste halbe Jahr war sehr, sehr schwierig, weil natürlich die Trauer auch so präsent war. Aber hier zu sein, hat mir dann auch total geholfen. Weil, ich habe ja jetzt noch das Gefühl, dass er hier ist und in der ersten Zeit war das ganz, ganz präsent. Und für mich war klar, wenn ich hier im Weingut bin, bin ich auch beim Tobias.
Für mich ist es immer noch Tobias‘ Weingut, weil er das einfach so geprägt und gelebt und geliebt hat. Und ich bin auch so dankbar, so in der ersten Zeit, auch für die Unterstützung, die ich bekommen habe, von der Familie, speziell vom Arnold, auch von seinem Papa, von der ganzen kaufmännischen Seite. Von ganz vielen Mitarbeitern, die ganz viele Jahre, hier schon gearbeitet haben, die weitergemacht haben. Von vielen Mitarbeitern, die neu dazugekommen sind, die wirklich mich in jedem Bereich mich dann unterstützt haben. Und es war klar, wir machen weiter, wir machen auch für Tobias weiter. Und ich glaube, was uns so zusammen geschweißt hat, war, wir wollen nicht nur weitermachen, dass es irgendwie weitergeht, sondern wir wollen es richtig gut weitermachen. Wir wollen Tobias stolz machen und wir wollen noch eins draufsetzen, so, wie Tobias das gemacht hätte und immer weiter vorankommen.
Sabine Mußler verschreibt sich mit allem, was sie hat, dem Weingut. Sie macht weiter. Für Tobias.
Sie arbeitet mit seinem Team und neuen Mitarbeitern. Lernt die Abläufe kennen. Macht Dinge wie ihr Mann. Und andere wieder nicht.
Sie kauft neue Weinberge dazu und vergrößert die Anbaufläche.
Elf Männer und Frauen arbeiten heute fest angestellt im Weingut, zwei in der Vinothek. Außerdem immer mehr Saison-Arbeitskräfte und 30 Aushilfen. Im Sommer, wenn die Vinothek geöffnet ist, kommen bis zu 500 Leute an einem Wochenende auf das Areal am Goldberg. 16 Jahre nach der Eröffnung. Und sieben Jahre nach Tobias‘ Tod.
Auf einer großformatigen Leinwand in der Vinothek ist ein Foto von Tobias zu sehen. Lächelnd. Zwischen Sonnenblumen.
Aber Sabine möchte ihm auch mit einem Wein ein Denkmal setzen. Im Weinkeller erzählt sie mir, wie es dazu kam.
O-Ton Sabine Mußler: Wir haben uns überlegt, mit dem letzten Jahrgang vom Tobias, das war dann 2015, würden wir gern etwas Besonderes machen. Das war der letzte Jahrgang der Trauben, die er geerntet hat, und da kam die Idee, dass wir eine Cuvée machen. Eine Bordeaux-Cuvée. Und wir haben dann im Keller alle Fässer durchprobiert und haben tatsächlich die Fässer rausgesucht, wo wir gesagt haben: Okay, das ist wirklich das beste Fass von Merlot, das beste Fass vom Cabernet Sauvognon und das beste Fass vom Cabernet Franc und haben daraus einen Cuvée gemacht.
Der Name des neuen Weins: Tuvijah. Das heißt Tobias. Auf Hebräisch.
Das Etikett hat Sabine mit einem befreundeten Grafiker entworfen. Darauf ist ein Rebstock zu sehen. Er steht symbolisch für Tobias‘ starke Verbindung mit seinem Weingut, die Identifikation damit. Und für seine tiefe Verwurzelung in seiner Heimat, für die Verbundenheit mit der Pfalz, seine Bodenständigkeit. Außerdem ist eine Schwalbe darauf zu sehen. Als Symbol für Hoffnung.
Der Tuvijah ist ein besonderer Wein für das Weingut. Eine Erinnerung an Tobias, eine, die bleiben soll. Deshalb entscheiden sich Sabine und Steffen, der Kellermeister, dazu, jedes Jahr die Cuvée zu machen. Eine Hommage an Tobias. Und so nennen sie den Wein auch: Tuvijah Hommage.
Und dann bekommt Sabine Mußler eine Mail von Rudolf Knoll, Weinkritiker, Journalist und Initiator des Deutschen Rotweinpreises, der zu den renommiertesten Preisen der Branche gehört. Und der geht in der Kategorie Cuvée an der Tuvijah Hommage 2018.
Aus 250 Weinen wählt die Jury diesen Wein aus. Und erfährt erst später von seiner Geschichte.
Die Auszeichnung ist ein besonderer Moment für alle, die im Weingut Mussler arbeiten. Und vor allem auch für alle, denen Tobias etwas bedeutet hat.
O-Ton Sabine Mußler: „Natürlich freut man sich, wenn man da den ersten Platz macht und dann ausgerechnet mit diesem besonderen Wein, wo wir an den Tobias denken, da hat man da auch das Gefühl gehabt, vielleicht hat er da wieder ein bisschen mitgeholfen.“
Dieser Gedanke, dass Tobias irgendwie mitgeholfen hat, ist Sabine in den vergangenen sieben Jahren immer wieder gekommen. Oder, dass ihr das Leben merkwürdige Streiche spielt, wie Tobias früher.
Sabine zeigt mir einen Ort, an den sie und Tobias sich gern zurückgezogen haben. Marly ist auch dabei. Die Bordermix-Hündin kam nach der Diagnose zu Tobias und Sabine. Wenige hundert Meter vom Weingut entfernt führt ein kleiner Steg über den Eckbach. Hier waren sie oft mit Marly.
Und dort erzählt sie weiter.
Am 24. Mai 2019 – Sabine ist seit einiger Zeit wieder in einer Beziehung und erwartet ihr erstes Kind – setzen bei ihr die Wehen ein. Ihr Sohn Mats kündigt sich an. Zwei Monate zu früh. Sein errechneter Geburtstermin: der 24. Juli – der Hochzeitstag von Sabine und Tobias.
O-Ton Sabine Mußler: Der Arzt hat dann gesagt: Wir müssen heute das Kind holen. Ich habe dann noch gesagt: Nein, nicht heute und er hat es dann erstmal gar nicht verstanden, warum denn nicht, und dann habe ich ihm erzählt, dass heute der Todestag von meinem Mann ist, und dann hat er dann gesagt, dass es dann wohl so sein soll.“
Mats kommt an diesem Tag auf die Welt. Und so wird der 24. Mai für Sabine zu einem Tag, an dem sich der Tod und das Leben berühren.
O-Ton Sabine Mußler: Der erste Geburtstag vom Mats und Todestag vom Tobi war ganz schräg, war natürlich ein Wechselbad der Gefühle, eine Achterbahn die Tage davor schon und am Tag selbst war mir ganz wichtig, dass ich erstmal Zeit habe für mich und für den Tobias, dass ich Zeit habe, auf den Friedhof zu gehen, die Trauer, die da ist und die da natürlich die Tage davor und speziell an dem Todestag, die da hoch kommt, sie zuzulassen und auch traurig sein zu dürfen. Und das habe ich dann auch gemacht und habe den Vormittag mit dem Tobias quasi verbracht. Und dann war es für mich wirklich gut und ich habe gedacht: Okay, und jetzt können wir Geburtstag vom Mats feiern.“
Die Geschichte von Tobias hat mich tief bewegt. Seine Schaffenskraft, diese Energie, die bis heute noch in seinem Weingut spürbar ist.
Und auch sein früher Tod. Tobias war so jung.
Ich bin 36. Würde es mir gehen wie Tobias, blieben mir noch vier Jahre. Was für ein Gedanke. Würde ich gehen wollen? Nein, niemals.
Aber: Was würde das mit mir machen? Welches Leben würde ich dann führen wollen? Und du? wie würde dein Leben aussehen, wenn du nicht mehr viel Zeit hättest?
Mit dieser Frage verabschiede ich mich für heute.
